Chemie in der 7. und 8. Klasse

"Warum der Chemieunterricht an Waldorfschulen gerade in der 7. Klasse anfängt, hat wohlfundierte menschenkundliche Gründe. Sie beruhen auf dem Grundsatz, der die gesamte Waldorfschule beherrscht: Allen Unterricht den Entwicklungsbedürfnissen und Entwicklungsnotwendigkeiten der Kinder anzupassen, d. h. jeden Unterricht in dem richtigen Lebensalter und dann so zu bringen, dass das gesunde Heranwachsen und harmonische Eingliedern in die Welt, in welche die Kinder hineingeboren sind und in der sie einmal wirken und arbeiten wollen, gefördert wird.

Es ist selbstverständlich, dass ein solcher erster Chemieunterricht andere Wege gehen muss, als sie an den öffentlichen Schulen beschritten werden. Dies zeigt jeder Blick in ein Lehrbuch für diese Schulen: Schon nach wenigen Seiten des ersten Buches für Anfänger erscheinen dort zunächst sehr primitive, aber bald schon kompliziertere Atommodelle und chemische Formeln, so dass die großartige Vielfalt und der ganze Reichtum der chemischen Erscheinungen von vornherein auf wenige abstrakte Grundbegriffe reduziert wird und dadurch für manchen durchaus interessierten und weltoffenen Schüler der Chemieunterricht zu einem lästigen Lernen von Formeln und wissenschaftlichen Spekulationen wird. [...] Es ist deshalb notwendig, das der Anfang der Chemie in der Waldorfschule auf chemische Formeln, Atomgewichte, Atommodelle usw. ganz verzichtet. Natürlich müssen die Schüler der Waldorfschule auch diese Dinge kennen lernen, denn sie sollen ja die Welt, in der sie als Erwachsene einmal tätig sein wollen, so verstehen lernen, wie sie heute geworden ist. Aber diese Dinge kommen erst in der Oberstufe zur rechten Zeit! So kann der rein aus den Phänomenen heraus erlebte und begriffene Chemieunterricht auf der Unterstufe (einschließlich der 9. Klasse) als eine Art «Therapie» angesehen werden für das in gewissem Sinn «krank»-machende Erarbeiten der abstrakten Wissenschaft auf der Oberstufe.

Seit dem ersten Chemieunterricht in der 1919 gegründeten Freien Waldorfschule, der von dem Schularzt Dr. Kolisko gegeben wurde, ist es eine schöne Tradition, mit der Betrachtung des eindrucksvollsten chemischen Vorgangs, den Feuererscheinungen, zu beginnen. Alle Kinder kennen das Feuer bereits aus dem täglichen Leben ... Bei eingehender Betrachtung zeigt sich, dass die Feuererscheinungen ... in das «Herz» der Chemie unmittelbar hineinführen. Ich habe ... dieses Phänomen in den Mittelpunkt gestellt und von hier abgeleitet, was sich geradezu «wie von selbst» als ein Kranz von grundlegenden chemischen Erscheinungen um dieses Zentrum herumschlingt. Dies gilt für die 7. Klasse. - Dem Lehrplan der Waldorfschulen folgend, erscheint für die 8. Klasse als Zentralphänomen das Licht, das in der Assimilation die Um–kehrung der Verbrennung hervorruft. Im Zusammenhang damit werden die Grundstoffe der menschlichen Ernährung betrachtet.

In den Waldorfschulen werden viele Fächer in Epochen gegeben; für die Chemie gibt es auf jeder Klassenstufe eine 3- bis 4-wöchige Epoche, d. h. in dieser Zeit beginnt jeder Tag mit 2 Stunden Chemieunterricht. [...] Alle Experimente sollten mit leerem Tisch beginnen, so dass die Kinder den Aufbau (möglichst auch den Abbau) der verwendeten Geräte verfolgen und verständnisvolle und exakte Zeichnungen ins Epochenheft machen können. Auch Tafelzeichnungen des Lehrers sollten nie anders als vor den Augen der mitzeichnenden Kinder gemacht werden."

aus: Walter Dietz, Chemie. Ergebnisse aus dem Epochenunterricht in der 7. und 8. Klasse
Dürnau 1989, Verlag der Kooperative Dürnau, Zitat aus dem Vorwort


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