Über den Deutschunterricht in der Oberstufe

Der Lehrplan in Waldorfschulen orientiert sich daran, was die SchülerInnen in ihrer aktuellen Entwicklungsphase ansprechen könnte bzw. welche Anregungen ihnen förderlich sein könnten. Im Folgenden werden Beispiele für diesen Ansatz gegeben, die natürlich nicht den gesamten behandelten Kanon widerspiegeln.

In der 9. Klasse wird u.a. die Frage nach der eigenen Identität, nach den ganz persönlichen Veranlagungen und Zielen - teils explizit, teils implizit - gestellt. Im Deutschunterricht werden diese Fragen (ohne sie direkt zu thematisieren) aufgegriffen, indem eine Biographien-Epoche stattfindet, in der einerseits die Biographien Goethes und Schillers von der Lehrperson dargestellt werden, andererseits aber die SchülerInnen eine ihnen wichtige Persönlichkeit (von Pélé bis Mutter Teresa) in Referatsform vorstellen. Sinn der Sache ist es, die SchülerInnen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen bekannt zu machen und ihnen auf diese Weise die Zuversicht zu vermitteln, dass auch sie ihren individuellen Weg finden werden - auch wenn er sich noch nicht abzeichnet.

In der 11. Klasse ist die Empfindungsfähigkeit der SchülerInnen feiner, die Einfühlsamkeit gesteigert, die Suche nach der eigenen Individualität hat sich sozusagen nach innen verlagert. Anhand einer literarischen Gestalt soll Gelegenheit entstehen, diese seelischen Erlebnisse von außen anzusehen. Eine besonders differenzierte Suche nach der eigenen Persönlichkeit wird in Wolframs "Parzival" geschildert, dessen Protagonist keinen Fehler ausläßt und über Versagen und Rebellion letztlich zu Einsicht, Eigenverantwortung und Freiheit gelangt. Obendrein gewinnt er die schönste Frau und den höchsten, ehrenvollsten Posten für sich. Dieser Entwicklungsroman aus dem 13. Jahrhundert hat offenbar nichts an Aktualität eingebüßt, die SchülerInnen bearbeiten ihn ganz überwiegend mit Interesse und Vergnügen.

Die SchülerInnen der 12. Klasse haben die emotionalen Wirren der Pubertät hinter sich gelassen, beherrschen die Kultur- und Schultechniken, sind einsatzbereit und vielfältig interessiert. Meistens wird jetzt Goethes "Faust" gelesen, da er eine Fülle von Themen anspricht: Sehnsüchte, Fähigkeiten, Liebe, Verrat usw. Besonders herausgearbeitet hat Goethe die Frage nach dem Bösen und dem Umgang damit, hier vor allem auf den Gebieten Missbrauch der Wissenschaft und Missbrauch des Vertrauens. Daran entzünden sich interessante, facettenreiche Gespräche, die die SchülerInnen anregen, den Faust-Stoff zu bewerten und zu beurteilen und Fragen an sich selbst zu stellen - die nicht unbedingt ausgesprochen werden müssen. Faust ist in "Faust I" destruktiv, in "Faust II" konstruktiv. An diesem Beispiel kann der 12.-Klässler begreifen, dass der Mensch zwar aufgrund seiner Konstitution begrenzt ist, aber viel erreichen kann, wenn er seine Kräfte richtig einsetzt.

In der 12. Klasse wird als Jahresprojekt ein Klassenspiel einstudiert, das dem Lektürefach Deutsch Anschaulichkeit, Sinnlichkeit verleiht. Die SchülerInnen sind seelisch so reif, dass Sie eine Rolle, also einen anderen Charakter differenziert erfassen und darstellen können.

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